~1. Kapitel~
Aalan und Trillian kamen ins Schwitzen. Obwohl die Mittagssonne kaum im Zenit der Mithlandberge stand, sorgte die innere Unruhe und Hektik der beiden dafür, dass Ihre Hemden von Schweiß durchtränkt waren, noch ehe ein kühles Lüftchen aus dem Norden sie hätte trocknen können.
„Ich hab es dir gesagt Trill, ich hab es dir mehrfach gesagt!“ Aalan musste grinsen, obwohl seine Worte versuchten, wie stets mit scharfen Ton seinen Freund eines besseren zu belehren. Innerlich wusste er natürlich, dass es nicht Trillians Schuld war, dass sie beide nun zu spät kamen. Natürlich wusste Aalan, dass sie beide zu gleichen Teilen in ein und demselben Schlamassel steckten – verschuldet durch beiderlei Versäumnis. Dennoch genoss es Aalan einfach seinen Freund aufzuziehen. Trillian zuckte mit dem Mundwinkel und zog seine Stirn in Falten, wie er es immer tat. Seine Augenbrauen verengten sich zur Mitte während seine Finger eine obszöne Geste in Richtung von Aalan machten.
Die beiden Jungs liefen die Hügelstraße entlang, die sie – wohin sollte sie denn auch sonst führen – zur Abtei auf dem Hügel bringen sollte. Natürlich gab es in Marronheim nur zwei wichtige Straßen. Die erste war wichtig für die Händler und das fahrende Volk. Sie führte einmal quer durch die runde Form des kleinen Dorfes, wie ein Durchmesser der den Kreis durchtrennt. Es war die einzige Hauptstraße durch die Fuhrwerk, wie die der Karawanen und Theaterwagen, fahren konnten, wollten sie nicht, einmal falsch abgebogen, mitten in einem der breiten Felder stecken, die sich um Marronheim herum säumten. Vor allem aber war der Transport der kräftigen Marronbäume für das Örtchen von so entscheidender Bedeutung, dass die breite Hauptstraße mit Stämmen zusätzlich verstärkt wurde, um die Lastwagen die schweren Stämme zu jedem Ort in Keadis und ganz Mistar transportieren zu können. Das Marronholz war das Kapital von Marronheim. Zweifelsohne bekam es daher seinen Namen, obwohl einige Biologen gar die Ansicht vertraten, dass es genau anders herum sei, da das seltene Gehölz auf mysteriöse Art und Weise scheinbar nur in dieser Umgebung zu wachsen schien. Ob nun Ort oder Baum zuerst den Boden Keadis bedeckten war reine Spekulation; dass sich Marronheim aber mit dem Abbau dieses seltenen aber kräftigen Holzes einen gewissen Namen nördlich des Gebirges verschaffte, war eine reine Tatsache.
Die zweite Straße, die für Marronheim selbst entscheidend war, führte auf einen kleinen Hügel nördlich des Dorfes. Sie war weder besonders verstärkt noch durch ein Geländer geschützt. Nein, viel mehr waren es die kleinen Schreine und das bedeutende Ziel am Ende des Pfades, welche für die Bewohner Marronheims noch nahezu wichtiger erschien als die breite Hauptstraße.
„Havièn!“, schrie Trillian und warf sich ruckartig zu Boden sodass Aalan beinahe über seinen Freund gestürzt wäre. Er brauchte nicht lange, sah sich flink den Schrein am Wegesrand an und warf sich neben seinen Freund zu Boden.
Eine geflügelte Gestalt in Efeu gekleidet. Ihre offenen Hände tragen die Vielzahl des erschaffenen Lebens zur Schau.
Stumm murmelten beide die Worte, die sie seit mittlerweile sieben Jahren Tag für Tag verinnerlicht hatten und standen genauso wortlos wieder auf.
„Du kannst mir doch nicht immer die Schuld an unserem Zuspätkommen geben, Aalan. Selbst Ores glaubt nicht mehr daran, dass du die Unschuld in Person bist!“ Trillians Worte pressten sich gehetzt zwischen seine Zähne, wie Wind der durch zu enge Furchen bläst. Das Tempo, das beide anstreben mussten, ließ einige seiner Worte im Schnaufen untergehen. Aber Ores ließ man nun mal nicht warten.
„Zum Einen habe ich dir nicht gesagt, du sollst den gesamten Wald nach einem geeigneten Ast absuchen und zum Anderen hat unser weiser Lehrer bisher immer den Anstand gehabt, mich das nicht spüren zu lassen, Trill!“
Aalan und Trillian sprangen flink über eine Wurzel, die sich durch den staubigen Boden bohrte, ohne den Blick vom jeweils anderen zu nehmen. Nach all den Jahren, die sie tagtäglich zu ihrem Unterricht in der alten Abtei gingen – und meistens sogar unter Zeitdruck hetzten – hatten die Jungs die Strecke auswendig gelernt. Wie in ganz Marronheim veränderte sich auch der schmale Hügelpfad zur Abtei nur in ganz kleinen Schritten.
„Artiana!“, schrie Trillian erneut unvermittelt, doch diesmal war Aalan noch eher am Boden und drückte seine Stirn in den Staub der Straße. Die einstudierten Worte flossen wie der Atem aus den Lippen der beiden.
Eine Frau hockend auf einem Stein. Eine Flöte ruht auf ihrem Schoß während sie lächelnd den Wind bemalt.
„Wie dem auch sei, zu spät kommen wir beide!“, stellte Trillian nüchtern fest und wechselte dann schnell in heiteres Gelächter. Aalan presste seine Lippen aufeinander, konnte dem Drang zum Lachen aber nicht lange standhalten und so liefen beide Jungs den staubigen Weg entlang in heiterem Gebrüll, sodass Ihr Lehrer auf dem Hügel die Ankunft der beiden schon hören musste.
„Im Endeffekt müssen wir wohl froh sein, dass du keinen Ast gefunden hast und uns auch niemand sah!“ Aalan´s Augen drückten eine Träne der Freude fort, wechselten aber sofort in einen ernsteren Blick. Trillian überspielte dies mit noch lauterem Gelächter obwohl er genau wie sein Freund wusste, dass das Spielen in den Marronwäldern und vor allem das unerlaubte Entfernen von dessen Hölzern eine harte Strafe nach sich ziehen konnte. Natürlich hielt sich kein junger Mensch an dieses Verbot, denn gerade das Unerlaubte machte daraus eine der größten Mutproben überhaupt, aber Tim Weizenknecht hatte sich vor einigen Siebttagen gehörigen Ärger eingehandelt. Der Umstand, dass weder Aalan noch Trillian den jungen Tim seitdem gesehen hatten, führte jedoch nicht dazu, dass beide Ihre Ausflüge in die Wälder vermieden sondern trieb sie nur noch mehr dazu an. Natürlich war der junge Tim Weizenknecht gehörig vermöbelt worden, aber im Gegensatz zu den Schreckensgeschichten, die die beiden Jungs ihren Freunden im Dorf fortwährend erzählten, wurde Tim nur als Strafe für einige Siebttage zu seiner Tante nach Goldlingen geschickt, um ihr dort bei der Marktarbeit zu helfen. Beides wussten die Jungs jedoch nicht, doch schien diese Strafe zumindest dafür zu sorgen, dass Aalan und Trillian ihre Ausflüge in den breiten Marronwäldern, die Marronheim zu fast allen Seiten umspannten, mit gemischten Gefühlen betrachteten.
„Alisia!“
Diesmal hatte Aalan den Schrein am Wegesrande vor seinem Freund entdeckt und drückte mit einem gezielten Schritt Trillian nach unten in den Sand der Straße. In einstudierter Genauigkeit drangen erneut die tonlosen Worte aus den Mündern der beiden.
Die Frau ist nackt, nur ein Säugling in Ihren Armen verdeckt ein Teil ihrer Blöße.
„Du hast wahrscheinlich Recht, wir geben uns wirklich alle Mühe uns unbeliebt in unserem Dorf zu machen!“, sagte Trillian nachdem sich beide genauso schleunigst aufrafften wie sie zum Beten zu Boden gingen. Aalan schaute seinem Freund entgegen und verdrehte gespielt die Augen.
„Findest du wirklich? Ich war immer der Meinung jeder im Ort schätzt uns wegen unserer freundlichen Art, Hilfsbereitschaft und vor allem wegen unserer Pünktlichkeit!“ Bei dem letzten Punkt zeigte Aalan auf den Hügel hinauf, der sich neben Ihnen sanft nach oben hob, während beide dem Pfad spiralförmig hinauf folgten. Die Kuppe war bereits zu erkennen, weiße Fahnen folgten dem Atem des Windes und deuteten das baldige Ziel ihrer Reise an. Trillian konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, schluckte dies jedoch sofort wieder herunter, als er dem Finger seines Freundes auf die Spitze des Hügels folgte.
Selbstverständlich übertrieben die beiden maßlos in der Art und Weise wie ihre Stellung in Marronheim tatsächlich war. Marronheim war ein ruhiger Ort. Es gab keinen Menschen mehr im Dorf oder der näheren Umgebung von Keadis, der Marronheim als etwas anderes kannte, als das, was es war: Ein kleines Örtchen voll friedlicher Bewohner, die ihr Leben nur auf Erhaltung und Unterhaltung des Dorfes verstanden. Entweder man tat etwas direkt für die Bewohner des Ortes oder war Holzfäller und mehrte das Vermögen von Marronheim. In der Goldland-Region gab es die reichsten Städte in ganz Keadis und die große autarke Stadt Abastia hoch im Norden einmal ausgenommen, auf ganz Mistar. Marronheim erwirtschafte vor allem in den Monaten des Herbstes einen Großteil seines Vermögens, musste jedoch nahezu alles davon versteuert an Goldlingen und schlussendlich auch an die keadische Hauptstadt Aluas abgeben. Für Marronheim blieb genug zum Leben und die Bewohner waren zufrieden damit. Die Bewohner des kleinen Ortes vor den Füßen der Mithlandberge genossen Ihre Arbeit und vor allem ihre Ruhe.
Aalan und Trillian waren dabei ein Teil des Ganzen. Weder verstieß Marronheim jemanden aus seinen eigenen Reihen, noch behandelte es einen Einwohner schlecht. Von Tim Weizenknecht einmal abgesehen wurde schon seit Jahren niemand mehr des Dorfes verwiesen und dies dann auch nur zeitweise. Die beiden Jungs, so lausbübisch sie auch mit ihren 17 Jahren denken mochten, standen bereits fest im Arbeitskreislauf des Ortes. Sie genossen eine Lehre bei angesehenen Meistern des Dorfes und lernten die Weisen des Lebens vom weitgereisten Ores. Geboren in Marronheim, werden sie auch für Marronheim leben und schließlich im hohen glücklichen Alter in den Betten ihres Heimes sterben. So war es immer und so wird es immer sein. Marronheim genießt seinen Frieden und die Bewohner danken es mit der Spanne ihres Lebens.
„Onar! Iluvién!“ Die beiden Jungs hätten den breiteren Schrein beinahe übersehen. Obwohl sie die Strecke jeden Tag zurück legten, überraschte sie das Bild der beiden Götter, die in einem kleinen Baumhain etwas abseits der Straße zu ihnen blickten immer wieder aufs Neue.
Sie lag schmachtend auf ihren Knien, die Rose mit beiden Händen dem Reisenden entgegen gestreckt. Er hob mahnend den linken Zeigefinger während auf seiner rechten Hand ein aufgeschlagenes steinernes Buch ruhte.
Fast zugleich sagten beide ihre erlernten Verse auf und schlossen die Augen. Bei diesem einen Schrein ließen sie ihre Hektik ruhen, kamen dem Schrein um einige Schritte näher und legten, jeweils abwechselnd, ihre Hände auf das Buch, das in Onars Hand lag. Aalan sah seinem Freund fest ins Auge und blickte dann den Hang hinauf, der sich direkt hinter dem Schrein nach oben erhob. Die Kante, die das Plateau an ihrer Spitze umsäumte, lag einige Meter über ihnen. Hätte der Wind günstiger gestanden so hätten die beiden Jungs hören können, wie Ores in diesem Moment seine Schüler begrüßte und den Unterricht einleitete. So jedoch rauschte eine Böe stetig über den Rand des Hügels und hüllte die gesamte Szenerie in ein behagliches Schweigen aus brausendem Wind und raschelnden Blättern.
„Wieso tun wir das eigentlich Tag für Tag?“, fragte Trillian als sie beide nun schon etwas gemächlicher den Pfad auf den letzten Metern nach oben folgten.
„Den Göttern zu Ehren natürlich. Um den Acht zu huldigen, die uns und die Welt erschufen, in der wir leben und die wir lieben!“
Trillian prustete laut los und klopfte Aalan fest auf die Schulter.
„Ores hätte es nicht besser sagen können!“, rief Trillian beinahe unter lautstarkem Lachen. Dies war, dem gesamten Wind zum Trotz, bestimmt auf dem Hügelplateau zu hören. „Oder vielmehr sind es ja genau seine Worte!“
Aalan sah seinem Freund fest in die Augen. Entschlossenheit und diese bestimmte Art eines Glaubens in seinem Blick.
„Ja es sind seine Worte, dennoch sind es auch die unseren. Sag mir nicht, nach all den endlosen Stunden Unterricht in dieser Abtei, scheust du dich davor, das Wissen zu verstehen!“
„Oh ich verstehe es!“, unterbrach Trillian knapp, „Und ich glaube auch daran. Es ist einfach nur komisch, dass wir nahezu jedes Mal zu spät zur Schule kommen und das nur, weil wir vor jedem Schrein diese Zeremonie abhalten müssen!“
„Die Verse der Acht!“, gab Aalan kurz zurück, musste aber danach grinsend den Kopf schütteln, was dazu führte, dass nun beide in brüllendes Gelächter verfielen.
„Gut. Gut. Dann lass uns lieber schnell zum Unterricht kommen!“, sagte er nachdem er sich eine Träne aus dem Auge wischen musste.
Trillian hob seinen Daumen und zwinkerte seinem Freund zu.
„Genau, Ores wird schon nicht merken, wenn wir ein einziges Mal unseren Pflichten nicht nachkommen.“
Yordan, der Gott des Lebens und der Schöpfung stand mit verschränkten Armen auf einem kleinen Podest während verschiedene steinerne Jünger vor ihm zu Knie fielen.
Die beiden Jungs liefen den Pfad hinauf und auf das hölzerne Tor zu, das sie zur Abtei führte.
„Ihr habt Yordan vergessen.“
Ores sah nicht zu den beiden Spätankömmlingen auf und dennoch spürten Aalan und Trillian die mahnenden Blicke ihres Lehrers, die Ihre Augen durchstießen. Trillian riss den Mund weit auf um etwas zu entgegnen, aber er wusste wie sinnlos das war, stattdessen ließ er ihn offen stehen und sah unter weit aufgerissenen Augen seinem Freund entgegen.
„Wie habt ihr“, begann Aalan und stotterte unter schweren Atemzügen hindurch leise Worte, bevor er sich räusperte.
Ores blickte den beiden immer noch nicht entgegen, viel mehr ignorierte er die Jungs so sehr, dass beide ernsthaft daran zweifelten, hier vor Ort zu sein. Er ging auf seinem kleinen Podest auf und ab und sah den jungen Menschen, die auf Holzpflöcken vor Ihm saßen entgegen. Frische Luft wehte über den offenen Garten, der direkt am Südende der Abtei lag und durch spärliche Möblierung und einige Anschauungsmaterialien in den warmen Monaten zu einem Unterrichtsraum umfunktioniert wurde. Der alte Mann trug seine hellbraune Tunika weit auf, während der Wind sie ab und an aufwehen ließ. In seiner rechten Hand ruhte der Knauf eines Stabes, der aus den geschwungenen und verknoteten Wurzeln der Marronbäume geschnitzt war und mit reichhaltigen Mustern und Szenen aus den Büchern des Vielta Agentumverziert wurde. Obwohl es für Außenstehende nicht den Anschein hatte – und auch Aalan, Trillian und die restlichen Schüler hinter seinem Rücken ihren Lehrmeister des Öfteren damit aufzogen – diente der Stab Ores nicht als Geh- oder Stützhilfe sondern war vielmehr ein Werkzeug des alten Meisters, für jegliche Lebenslagen. Das dunkle Holz zeichnete einen strengen Kontrast zu den weißen Behängen, die um das Lehrerpodest die Bühne des Geschehens einspannten. Hellstrahlende Laken umsäumte Ores Platz und dienten sowohl als Hintergrund für verschiedene Präsentationen als auch zum Eindämmen der blendenden Mittagssonne. Sein Stab war sein Zeigestock, ein Mittel entfernte Dinge zu erklären, seine Schüler aus der Reserve zu locken und gleichzeitig auch die eine oder andere Rüge zu verteilen. Mit dem elfenbeinfarbenen Knauf, in Form desSilbernen Rades,hatte Ores ein wichtiges Instrument, welches ihm verschiedene Türen auf ganz Inahar eröffnen könnte, mit der eisernen Spitze aus Jinaristahl hatte er notfalls eine Waffe um sich zu verteidigen. In dieser Situation jedoch verließ sich Ores ganz und alleine auf seine Worte.
„Wie hab ich was? Gewusst das ihr zu spät kommt? Nun eure Unpünktlichkeit hat euch verraten. Oder wie ich gewusst habe, dass ihr Yordan, euren Schöpfergott vergessen habt? Ich bin euer Lehrer und auch ein Vieza, ich weiß einige Dinge und es ist meine Pflicht alles herauszufinden.“
Aalan und Trillian sahen einander noch ungläubiger an.
„Und außerdem lacht, gackert und redet ihr beide so laut wie zwei Waschweiber in den Seifenstraßen von Aluas. Die gesamte Klasse hatte davon erfahren und mir sofort ihren Unmut darüber mitgeteilt. Und während wir darüber debattierten, welch göttliche Strafe Yordan wohl für euch beide auserkoren hat, stürmt ihr hier herein und stört erneut. Ich hoffe nur ihr habt eine sehr gute Entschuldigung parat.“
Aalan und Trillian gingen einige Schritte dichter an das Podest ihres Lehrers, wobei sie reumütig durch die Reihen ihrer Mitschüler schritten. Einige tuschelten, anderen sahen die beiden nur mit schüttelnden Köpfen an, die meisten jedoch schienen keine Notiz von ihnen zu nehmen und widmeten sich weiter anderen Dingen.
„Also“, fing Trillian leise mit brüchiger Stimme an, nachdem er und Aalan einige Atemzüge direkt vor dem Podest stehen blieben und den Kopf so tief zur Erde hängen ließen, dass man denken könnte, sie würden ihnen beiden jeden Moment von den Schultern fallen. Es war eine gefühlte Ewigkeit, die die beiden Jungs mit verstohlenen Blicken verbrachten, stets in der Hoffnung, der andere würde das Wort ergreifen. Unzählige Male standen sie schon vor ihrem Lehrmeister in derselben Pose, unzählige Male wechselten sich die beiden ab, wer nun vor Ores und der gesamten Klasse die Entschuldigung auftischen würde. In der Gruppe, die gespannt hinter ihnen auf ihren Holzstämmen saß, kursierten bereits inoffizielle Wetten, welche Geschichte die beiden nun heute entwickelten.
„Wir waren auf dem Weg zur Abtei und wunderten uns bereits wie zeitig wir heute zum Unterricht erscheinen würden.“, sagte Trillian nun etwas lauter. Bereits die ersten Worte ließen die Mitschüler aufstöhnen und Ores verdrehte amüsiert die Augen, verkniff sich aber eine Bemerkung.
„Doch ganz ehrlich.“, fuhr Trillian fort, drehte sich zu den jungen Menschen hinter ihm um und breitete seine Arme aus. Aalan wollte tief in Scham versinken. Sein Freund hatte diese Eigenart nach endlosen Lügengeschichten sich irgendwann dermaßen hineinzusteigern, dass er selber daran zu glauben schien. Zumindest klang seine Stimme heute wieder derart überzeugt, dass jeder Versuch Aalans, Trillian zu stoppen, vergebens sein würde.
„Wir gingen frohen Mutes auf direktem Wege der Hügelstraße entgegen und fragten uns beide über den Stammbaum Acherons aus – weil wir ja wussten, dass dies heute abgefragt wird – da hörten wir auf einmal ein monströses Schnaufen aus den Marronwäldern.“ Die Mitschüler grinsten breit und tuschelten miteinander während Ores keine Regung zeigte. Nur Aalan´s Gesicht gewann eine komplett neue und ungesunde rote Farbe und es war fast zu spüren, wie die Scham seinen Körper einnahm.
„Wir dachten uns natürlich: Dem müssen wir nachgehen. Man erzählt sich ja allerhand Geschichten von Kreaturen, die unser Wäldchen bewohnen und keine von diesen wäre unserem schönen Dorf bekömmlich. Wir sahen es also als unsere Pflicht an, unser Marronheim vor jeder Gefahr zu schützen, auch wenn wir dafür unseren wichtigen und geliebten Unterricht säumen mussten.“
Aalan zischte leise zu seinem Freund herüber. Nur nicht so dick auftragen, Trill.Er hörte das anschwellende Gelächter hinter ihm und wagte nicht den Blick zu seinem Lehrer zu heben. Der Gedanke wie Ores seinen Stab bereits über ihnen erhob, die hellbraune Tunika wie vom Sturm gepeitscht umher wehte und ein feuriger Zorn in seinen Augen stand, der dafür sorgte, dass Yordan sie selbst für ihren Frevel strafen würde, kam ihm vor Augen.
„Natürlich wussten wir, wie aussichtslos die Lage für uns beide war und dass wir die Marronwälder niemals betreten durften. Doch es war weit und breit niemand zu sehen und irgendjemand musste einfach etwas unternehmen. So hatten wir keine Wahl als diese wichtige Regel zu brechen.“
Trillian kam immer mehr in Fahrt. Mit einem Sprung setzte er auf dem Podest auf und stellte sich neben Ores, die Hände zu Fäusten geballt und drohend in den Himmel erhoben.
„Im Schatten der großen Hölzer erschien nach wenigen Schritten bereits ein rotglühendes Paar Augen und heißer Atem schwang uns entgegen. Schleunigst suchten Aalan und ich den Wald nach einem kräftigen herabgefallenen Ast ab, schließlich wollten wir selbst angesichts dieser drohenden Gefahr keinen der stolzen Bäume verletzten.“
Zu viel Trill. Es wird zu viel!
„Und dann plötzlich brach dieses Ungetüm durch das Gehölz, fällte einige der ältesten Bäume, wie kleine Streichhölzer und griff uns an. Es war ein Drachling. Doch ganz bestimmt. Wir schlugen mit unseren Ästen nach dieser Ausgeburt des Dämonenreiches, doch Aalan konnte nicht lange stand halten und sank erschöpft oder verwundet zu Boden. Ich musste etwas unternehmen und meinem Freund beistehen und so bohrte ich meine Waffe tief in die Augenhöhle des beschuppten Wesens. Ein gellendes Geschrei fuhr mir durchs Mark als schwarzes Blut aus dem Kopf des Monsters sprudelte und der Drachling sich in die dunklen Tiefen des Waldes verkroch. Schnell lief ich zu Aalan und rüttelte ihn wach. Benommen kam er langsam wieder zu Kräften und rappelte sich auf.“
Nun brüllten alle Mitschüler in vereinter Kraft lauthals los, klopften sich auf Ihre Schenkel oder die Schulter des Nebenmannes und Aalan versank in tiefer Scham.
„Während der Atem des Monsters immer flacher wurde und das knackende Holz unter seinen Bewegungen immer leiser klang, meinte ich zu hören wie er leise unsere Namen rief. Bedrohlich. Finster. Eindeutig und klar.“
Trillian senkte seinen Kopf und ließ seine Stimme leise abklingen. Dann stand er da, wie ein Schauspieler vor seinem Publikum und genoss den Applaus, der tosenden Menge die in Gelächter und Beifall über ihn hinwegschwemmte. Aalan indes wünschte, er hätte sich auf dem Weg nach oben ein Bein gebrochen und somit eine plausiblere Entschuldigung hervorbringen können, oder vielmehr diese Peinlichkeit nicht ertragen müssen.
„Wir liefen danach so schnell wir konnten zu euch, Meister Ores, um euch davon zu berichten. Und natürlich hielten wir an jedem Schrein unserer Götter und sagten die Verse der Acht. Wir brachten Onar sogar die besondere Zuwendung, die euch so teuer und wichtig ist, dennoch war unsere Hektik zu groß sodass wir den großen Schöpfer, später unsere Ehre bezeugen wollten, denn Yordan weiß stets um die Gunst seiner Anhänger.“
Trillian blickte zu Ores hinüber und übte sich in dem schuldbewusstesten Blick, den er aufbringen konnte.
„Eine gigantische Geschichte, Trillian Himmelsturm.“, unterbrach Ores die ausgelassene Stimmung seiner Schüler und klatschte, zu der Verwunderung aller, ebenfalls langsam in seine Hände während seine Augen gütig auf Trillian blickten.
„Aber Haccus hatte dem Drachling kein Auge ausgestochen sondern seine Fäuste in die Kehle des Monsters gejagt. Und außerdem würde nicht einmal einer der großen Ritter des alten abastianischen Reiches es wagen, einen Ast aus den Marronwäldern zu missbrauchen, schon gar nicht für solch eine peinliche Entschuldigung.“, Ores Miene verfinsterte sich schlagartig und er packte seinen Stab fester am elfenbeinfarbenen Knauf, während er langsam näher an Trillian herantrat.
„Und es war nicht das Auslassen von Yordans Schrein, dessen Entschuldigung ich hadere. Denn wie du sagtest weiß unser Schöpfer, wie sehr wir ihn stetig verehren. Es war auch nicht unbedingt euer zu spätes Erscheinen. Denn dessen habe ich mich mittlerweile abgefunden sodass ich mit meinem Unterricht auch immer einige Minuten warte. Nein meine beiden Jungs...“ Ores ließ seinen Stab hoch in die Luft fahren und schwang ihn dann im weiten Bogen nach unten. Aalan und Trillian sahen sich schon grün und blau geschlagen. Auch wenn Ores dies bisher nie tat und sich beide auch sicher waren, er würde dies niemals tun, waren beide für diesen Moment bereit ihre Gedanken umzuändern.
„Ihr habt Sonnest und Roussa vergessen und diese beiden lassen sich längst nicht so einfach übergehen.“ Der Stab schlug mit der eisernen Spitze auf den Boden ein und Ores wirbelte ihn erneut einmal um seine Achse mit der Geschwindigkeit, die weit jenseits seiner Jahre lag. Dann zeigte der elfenbeinfarbene Knauf auf die großen Statuen, die links und rechts des Podestes standen und die weißen Laken hielten als würden sie ein weites Segel spannen. Aalan schlug sich seine Hand gegen den Kopf und nickte. Trillian verlor die Stimme und verließ mit gesenktem Haupt die Bühne. Dann murmelten beide ihre stummen Verse, während sie zu ihren Plätzen marschierten.
Ein zarter, gelockter Knabe, der seine Arme zu einer großen Umarmung ausstreckt und ein Hüne von Mann, im Gesicht mit Narben übersät, in der einen Hand ein Schwert und in der anderen einen Krug Wein haltend.