~2. Kapitel~
-Marronheim, Abtei von Ores-
Nachdem sich das Publikum beruhigt hatte konnte Ores mit seinem Unterricht beginnen. Der alte Vieza war einer der letzten seiner Art. Obwohl der Glaube noch weit verbreitet ist in Mistar und auch in anderen Teilen von Inahar, scheint sich mittlerweile in der Bevölkerung eine Art Entsagung durchzuziehen. Die Menschen beginnen den Wundern einen wissenschaftlichen Sinn zu geben. Wo zuvor noch Havièn die Tiere nach Yordans Vorwerk erschuf, sind heute biologische Prozesse für ihre Entwicklung verantwortlich. Als Vieza der alten Schule musste Ores sich einst entscheiden. Sein abenteuerliches Leben weiter führen und spüren wie die Menschheit einem ihm fremden Pfad folgte oder aber den Menschen das alte, wahre Wissen wieder entdecken lassen. In Marronheim konnte man ihn am ehesten als Priester bezeichnen, obwohl dies ein gelehrter Vieza natürlich nicht gerne hörte. Ein Holzfäller schuf schließlich auch keine Bögen. Er versteht sich mit allen Arten des Holzes und weiß es zu schlagen. Um daraus einen filigranen Bogen, die Waffe eines Wächters oder Jägers zu fertigen, fehlt ihm aber das Wissen und Geschick. Gleichwohl kann ein Bogner aus einem Stück Holz die gefährlichsten Geschosse herstellen, wäre an einer Säge aber so unbedarft wie ein kleiner Junge. Dennoch gefiel sich Ores in seiner Rolle. Er lehrte das wahre Wesen desVielta Agentums und segnete die Menschen um ihr Selbstvertrauen zu stärken. Er führte Hochzeiten durch und Kinder in diese Welt. Und den Heranwachsenden wie Aalan und Trillian erteilte er Unterricht in allen möglichen Gebieten während sie nicht Ihrer Ausbildung nachgingen.
„Nun meine Kinder, so können wir nun endlich beginnen. Eine erneute Begrüßung erspare ich mir aus naheliegenden Gründen und möchte ohne Umschweife den heutigen Unterricht einleiten.“ Ores war die Ruhe selbst und ging mit gefalteten Händen auf dem Podest auf und ab, wobei sein Blick jeden seiner Jünglinge mindestens einmal genau streifte und er tief in deren Augen sah. Blickkontakt war genauso wichtig wie die genaue Betonung der einzelnen Worte. Ores wusste, dass nicht jedes seiner Themen immer genau das Interesse seiner Zuhörer weckte, auch wenn er selber jedes Einzelne für extrem wichtig ersah. Um seine Schüler bei Laune zu halten, musste er bisweilen auf merkwürdige Lernmethoden zurückgreifen, Verse und Gedichte mit lautem Singsang vortragen, Geschichten und Legenden, atmosphärisch begleitet, mit epochaler Stimme aufsagen. Nicht selten verlegte er seinen Unterricht in die späten Abendstunden, um die Heldenerzählungen rund um Haccus und Belerian, den beiden größten Rittern Ihrer Zeit oder Tragödien wie denen der Drei Brüder oder aber Laslow, dem Dichter, ein richtiges Gefühl mitzugeben. Dies sorgte mitunter für heiteres Gelächter unter den Schülern, aber auch dafür, dass ihr Lehrer für sie mehr als nur dies war, sondern auch ein Freund und Vertrauter.
Der alte Vieza hob seinen Atem und setzte zum Sprechen an. Sofort brach er ab, kniff seinen Augen zusammen und legte den Kopf schräg gen Himmel gerichtet.
„Wo waren wir gestern stehen geblieben?“
Er sagte es mehr zu sich selber als zu seinen Schülern, doch ein offenes Fenster zu seiner Rechten trug seine Worte hinaus in den Garten. Durch die weißen Laken, die ringsum den Freiluftraum gespannt waren, wirkte das Äußere Areal wie ein hell durchfluteter Raum im Inneren der Abtei.
„Ihr erzähltet uns gestern über den großen Bruderkrieg lange vor unserer Zeit. Wie Abas, Keade und Acheron sich im Streit trennten und schließlich Krieg im Namen ihrer Mutter gegeneinander führten.“
Es war Neria, das junge Mädchen, welches auf einem Holzstamm links neben Trillian saß. Die jüngste Tochter des Bürgermeisters war stets mit großer Begeisterung am Unterricht dabei und war eine der wenigen, die während der Ausschweifungen von Ores sogar Notizen machte. Man könnte meinen, es läge jungen Mädchen im Blut, Wissen begeisterter in sich aufzusaugen als es Jungen tun würden, doch Aalan befand immer, dass Neria es einfacher hatte dem Unterricht zu folgen, hatte sie doch als Bürgermeisterkind keine Ausbildung, die ihren Kopf ohnehin belasten würde. Trillian war, zumindest in Anbetracht dieser jungen Schönheit, nicht ganz so hart mit seinem Urteil.
„Ah, der große Bruderkrieg, das Ereignis, das Mistar in seine drei Reiche teilte. Herrlich...“
Ores lächelte und schnippte mit den Fingern als wäre ihm der Gedanke gerade eben gekommen.
„Und ihr solltet mir gewiss sagen, was ihr für Einzelheiten über den Krieg erfahren habt, oder?“ Es klang weniger nach einer Frage sondern eher nach einer Feststellung, die er mit einem Nicken selber beantwortet.
„Eigentlich wolltet ihr uns erst wesentlich später davon berichten. Wir hatten gestern mit dem Stammbaum von Acheron, dem ältesten Bruder begonnen und ihr wolltet uns testen wie weit wir ihn verinnerlicht hatten.“
Aalan verdrehte die Augen und ließ den Kopf langsam auf den Tisch sinken. Das hatte er vollkommen vergessen. Gestern war er direkt nach dem Unterricht zur Arbeit in die Taverne gegangen. Er und Trillian hatten sich vorgenommen, dass heute bei ihrem Ausflug in die Marronwälder einmal durchzusprechen, aber die Suche nach einem Souvenir aus der verbotenen Zone hatte beide komplett alles vergessen lassen. Da schoss Aalan jedoch ein, was Trillian während seiner Entschuldigung sagte. Er wusste noch was zu heute ihre Aufgabe war. Er blickte langsam zu seinem Freund herüber. Trill zuckte die Achseln und grinste ein wenig verlegen.
„Ach genau. Acheron der Ältere, Herr von Darsalia und dem später entstandenen Reich Ächeton. Nun denn Neria ich merke du bist aufs Beste vorbereitet und so wäre es doch nur recht und billig wenn“ Ores nickte der Tochter des Bürgermeisters anerkennend zu und blickte dann suchend über die Runde von Schülern, die geduldig, zu weilen auch ängstlich von ihren schmalen Holzstämmen zu ihm hinaufblickten. „Aalan uns an seinem Wissen über den Herren des südlichen Landes teilhaben lässt.“
Es war wie ein Tritt in die Magengrube und Aalan versank nun gänzlich mit seinem Kopf zwischen seinen Schultern.
„Also Acheron, ja?“, begann er vorsichtig und ließ die Frage ein wenig zu lange im Raum hängen. Ores nickte ihm freundlich zu und bedeutete mit seinem Stab, dass der Junge sich erheben sollte.
„Also nachdem Acheron wieder nach Hause kam, hatte er eine Frau. Die war die schönste Frau jenseits des Gebirges und“
„Die Blume von Aturia. Fahre fort!“, unterbrach ihn Ores milde und lächelte freundlich.
„Genau. Die Blume. Und mit dieser zeugte er drei Kinder. Fela, die schöne Tochter. Die wegen Ihrer Schönheit und Lustvorstellung die beiden Herzöge von“
Aalan schnippte mit dem Finger als lägen ihm die Namen auf der Zunge.
„Fahre fort!“, sagte Ores abermals lächelnd und drehte seinen Stab in seiner Hand.
„Nun als dann gab es noch die beiden Söhne. Alchewon der braune Bär, Herr der Sandlegion und“
„Wer kann helfen?“ Ores löste seinen gütigen Blick von Aalan und konnte so kaum sehen wie ein schwerer Stein von dessen Schultern genommen wurde. Erleichtert atmete der Junge aus.
„Trillian komm hilf deinem Freund. Er ist wahrscheinlich noch ganz angeschlagen von eurer Schlacht mit dem Drachling.“ Aus Ores Mund klang dies nicht belustigt oder ironisch, nein hätte nicht jeder gewusst, wie erlogen die Geschichte war, hätte man es seiner Stimme nicht entnehmen können.
„Natürlich. Der Bruder von Alchewon war selbstverständlich Achetan, Hofmagister seines Vaters und großer Magier an der Akademie der Winde am Südkap.“
„Falsch, fahre fort!“, unterbrach Ores grinsend.
Trillian blickte verdutzt und unsicher. Er hatte gestern nach seiner Schicht in der Schmiede zusammen mit Neria den Stammbaum rauf und runter gesprochen. Er war sich sicher, dass er dabei keinen Fehler gemacht hatte.
„Also dann kamen die Zwillinge Lancos und Landad, die beide dem Schoß verschiedener Mütter am selben Tage entsprangen und ihrem Vater Alchewon in der Legion dienten.“
„Falsch, fahre fort!“, unterbrach Ores erneut und lächelte.
„Das kann nicht euer Ernst sein.“, sagte Trillian vorsichtig und wechselte ein kurzen Blick mit Neria die ebenso verständnislos neben ihm saß und ihm zu nickte.
„Du hast die Essenz des ganzen nicht verstanden mein Junge, aber versuche es ruhig weiter.“
Trillian schluckte seine Unsicherheit herunter und atmete ruhig durch.
„Okay, also Achetan hatte keine Nachkommen. Einige sagten er wäre zu seltsam gewesen um eine Frau für sich zu gewinnen, andere er habe durch die Magie, die er wirkte, die Fähigkeit verloren Kinder zu zeugen.“
„Falsch, fahre fort.“
Trillians Unsicherheit wuchs allmählich zu einer unbeherrschten Form der Wut an, die einem Jungen seines Alters nur allzu häufig begleitet.
„Nein ist es nicht. Ihr habt uns gestern gesagt, dass Achetan kinderlos blieb. Neria und ich haben gestern stundenlang geübt und das sind genau die Worte, die ihr benutzt hattet und sie sich notierte.“
Ores nickte bedächtig und tat so als dachte er tatsächlich über die Worte von Trillian nach. Aalan indes versuchte seinen Ärger herunter zu schlucken, dass Trill und Neria gestern den Abend miteinander verbrachten um zu lernen und er heute unvorbereitet vor Ores treten musste.
„Das ist auch richtig. Aber es geht doch nicht darum was die Geschichtsbücher schreiben oder ich euch sage. Es geht um die Rolle der Menschen in der Welt.“
Auf einmal sahen alle Schüler mit aufgerissenen erstaunten Augen zu ihrem Lehrmeister hinauf, der sein Lächeln nun etwas schmälerte. Jeder wäre in diesem Test unvorbereitet gewesen.
„Natürlich war Achetan der Hofmagier von Acheron und blieb zuletzt kinderlos. Sicherlich war Alchewon Heerführer der Sandlegion und nahm seine beiden Söhne bei sich auf. Aber ist das die Essenz ihres Lebens? Die beiden Söhne von Acheron waren auch noch etwas anderes als Magier und Krieger. Sie waren die Söhne von Acheron.“
Nun verstand niemand mehr und Trillian krallte sich mit seinem Fingern in seinem Hosenbein fest.
„Sie trugen das Erbe ihres Vaters in sich, noch dazu die männliche Nachkommenschaft eines Menschen, der Mistar in Krieg stürzte und seine eigenen Brüder bekämpfte. Die Rolle der beiden war mit ihrer Geburt vorherbestimmt und sie folgten ihr mit bestem Gewissen. Sie hätten nicht Magier und Krieger im Land ihres Vaters sein müssen. Sie hätte auch Händler werden können oder Reisende, Ärzte oder Schmiede. Nein sie gefielen sich in der Rolle, die ihr Vater ihnen vermacht hatte und verwendeten die Essenz ihres Lebens um etwas Eigenes zu schaffen. Der Herr über einen Selbst ist immer man selbst. Aber bitte Trillian, versuche es erneut.“
Trillian war zu verdutzt um sofort der Bitte nachzukommen. Dann nickte er leicht benommen und sprach weiter.
„Fela schlussendlich hatte zwei Söhne. Jeweils einen von den beiden Herzögen.“
„Das ist nun aber wirklich falsch.“, unterbrach Ores erneut und sein Lächeln verschwand nun gänzlich.
„Fela hatte unzählige Kinder von unzähligen Herzögen. Sie hätte Sängerin werden können oder eine begabte Kräutersammlerin. Stattdessen wurde sie zur Dirne des Adels. Nicht nur die beiden Ländereien der Herzöge Festus und Ratio fielen wegen dem Streit um ihre Schönheit ihrem Vater in die Hände.“
Ores ging aufgeregt das Podest auf und ab und blickte jedem seiner Schüler so fest ins Auge, wie er es bei der Begrüßung schon tat.
„Versteht ihr also, dass es einen Unterschied zwischen einem Leben und seiner Rolle im Leben gibt? Wie man lebt kann von vielen Faktoren beeinflusst werden. Bei den Kindern von Acheron war es der Vater. Bei Wölfen ist es der Instinkt. Aber wir sind schlauer als unsere Vorfahren und die Tiere. Wir haben immer die Möglichkeit unser Leben zu bestimmen. Wir selbst können entscheiden welchem Pfad wir folgen möchten und wie wir diesen entwickeln. Manch einer nimmt einen Umweg, ein anderer steht vor einer Abzweigung und einige, wie unsere geschätzten Vorfahren, enden in einer Sackgasse. Aber die Möglichkeit ist da. Und deshalb möchte ich, dass ihr euch dessen bewusst werdet und selber herausfindet, was eure Rolle im Leben ist.“
Ores schüttelte den Kopf als wäre alles sinnlos gewesen. Er war nicht sauer auf seine Schüler, aber er wusste, wie heikel dieses Thema werden würde, wenn er erst einmal in Fahrt kam. Mit dem Schütteln seiner Hand entließ er die Kinder früher als geplant aus dem Unterricht.
Nachdem seine Schüler fort waren, schloss Ores die Augen und drehte sich zu den beiden Statuen von Roussa, dem Reisenden und Sonnest, dem Freund um.
„Ich hoffe ich mache alles richtig.“, seufzte der alte Vieza und stützte sich auf seinen Stab.